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Tech-Theologie: „Leben in Fülle“. Über digitale Freiheiten und die Suche nach dem guten Leben…

Tech-Theologie: „Leben in Fülle“. Über digitale Freiheiten und die Suche nach dem guten Leben…
Lesedauer 6 Minuten

Über das, was Theologie und IT im Kern verbindet: Digitale Freiheit, Sehnsüchte und Sinnsuche. Darüber und noch viel mehr hat Digital-Diakon Josef John gesprochen. Sein Gesprächspartner: Pfarrer im Probedienst Jan Otte, in Konstanz.

Josef: Du hast viele Jahre im IT-Bereich gearbeitet, ganz offensichtlich ein Technik-Händchen. Und aktuell bist du Pfarrer, genauer gesagt „Pfarrer im Probedienst“. Was machst du da? 

Jan: Probedienst, das kommt aus dem Beamtenrecht. Alle Examina und Zertifikate, die ich brauche, um mich dann im Anschluss auf eine Kirchengemeinde zu bewerben, die habe ich schon. Ich bin quasi aus dem gröbsten raus…

Podcastprojekt von Josef John

Josef: … da müsste also schon viel passieren, zum Beispiel den Organisten von der Bank stoßen oder die Kollekte klauen. 

Jan: Ich schätze diese Sicherheit, verbunden mit einer Perspektive, nah am und mit ganz unterschiedlichen Menschen zu arbeiten, im Alter von 0-104, das empfinde ich als großes Privileg. In meiner bisherigen Rolle als Manager von Veränderungsprozessen ist das eine unendlich große Zielgruppe, ein ganzes Jahrhundert im Blick! Was für ein Mammut-Projekt.

Josef: Du hast schon ein paar Runden in der Wirtschaft gedreht bevor du Pfarrer geworden bist. Erzähl doch noch ein bisschen zu dieser Zeit, was hat dich da geprägt…

Jan: Erst mal ging’s mir schlicht und ergreifend darum, Geld zu verdienen, direkt ab dem ersten Semester. Die Mieten waren damals schon teuer, auch im Studentenwohnheim. Ich hab zur Jahrtausendwende angefangen, für ein SAP-Spinnoff Controlling-Software zu verkaufen. Ein praktisch unsichtbares Produkt, kaum plastisch und bis heute nicht wirklich sexy. Das war ganz schön herausfordernd für den Vertrieb, hier ein Lebensgefühl zu vermitteln für Kund*innen und solche die es noch werden solle. 

Josef: Und wie ging’s dann für dich weiter, vom Studentenjob zur großen Strategieberatung?

Jan: Auf dem Campus der Universität Heidelberg gab es gelegentlich Workshops, versteckte Recruiting Veranstaltungen. Da habe ich mich quasi abwerben lassen von Accenture, einer der weltweit größten Unternehmensberatungen für Transformationsprozesse. Dort habe ich zusammen gearbeitet mit Psychologinnen und Wirtschaftspädagogen. An der Schnittstelle Mensch-Maschine, Maschine-Mensch. Und das kann ich für meine aktuelle Berufung in der Kirche ganz gut brauchen, die sich natürlich auch in einem Umbruch befindet…

Schnittstelle Mensch-Maschine, Maschine-Mensch

Jan Otte, Tech-Theologe

Josef: Verrückt wie du da reingerutscht bist! Klingt ganz danach, als das bei dir nicht der allererste Plan gewesen wäre, Manager zu werden. Vom Büffeln von Hebräisch und Griechisch hin zur Auswertung von Exel-Sheets. Warum bist du nicht dort geblieben? Kann mir vorstellen, dass du da jede Menge Geld verdient hast in der IT-Branche. Wie kam es zum nochmaligen Wechsel…

Jan: Theologie ist viel mehr als brotlose Kunst! Und natürlich, ich habe in der Schweiz deutlich mehr verdient auf einer Managementposition, als ich das in Deutschland im öffentlichen Bereich jemals tun werde. 

Josef: Wegen dem Geld kam es bei dir also nicht zum nochmaligen Wechsel. Sondern? 

Jan: Ich bin gewechselt, weil ich das wirklich gerne mache! Aus Überzeugung, Leidenschaft und Berufung. Als Christ mitten im Leben zu stehen, mit Menschen in Kontakt. In unseren kirchlichen Kindergärten, Schulen und Seniorenheimen zu spüren, was gerade in der Breite und Tiefe der Gesellschaft anliegt. Mir liegt viel daran, Menschen ganzheitlich in den Blick zu nehmen, mit all ihren Potentialen und Bedürfnissen.

Josef: Hast du, verglichen mit deinem bisherigen Beruf als Consultant, noch das Gefühl, irgendetwas verkaufen zu müssen?

Jan: In meinem Beruf als Pfarrer weniger. Natürlich gibt es Strategien und Konzepte, wie „Kirche im Umbruch“, was bis 2023 an den Mann oder die Frau gebracht werden muss. Das passiert induktiv. So entsteht Veränderung von innen heraus, spürbar und ohne Vertriebsdruck. Und das auch aber bitte nicht nur in elitären Managerkreisen und Workshops. 

Josef: Kannst du dir vorstellen, wieder zurück in die Wirtschaft zu wechseln?

Jan: Die Gabe, in die Glaskugel zu schauen, habe ich leider auch nicht. Da vertraue ich auf Gott! Er überblickt gleich mehrere Zukünfte. Vieles ist möglich UND und denkbar. Doch über DIE Zukunft weiß ich wenig bis nichts. Ich konzentriere mich derweil auf die Gegenwart. Die Basisarbeit in unserer Kirchengemeinde liegt mir als Vater von drei kleinen Kindern echt am Herzen! Und die geben mir genauso wie meine wunderbare Frau ganz viel Fokus. Ich frage mich immer wieder, wie wir gut miteinander leben und was ist dafür als nächste Schritte braucht, für dieses „Leben in Fülle“ (Johannes-Evangelium, zehntes Kapitel)

Josef: Ich höre raus, du denkst Kirche größer als ihre Gebäude, die immer mehr umgenutzt werden und anderen Verwendungsformen zugeführt. Ich spüre, Kirche bedeutet für dich das volle Leben. Angefangen bei der Schöpfungsgeschichte, Leben zu gestalten…

Jan: … suchen wir gemeinsam nach Wegen, damit das Leben gelingt! Und dazu hilft uns Prozessorientierung aus dem Bereich der IT. Als Form. Wunderbar der Inhalt, der kommt für mich aus der Theologie. Die Kombination macht es für mich. Gemeinsam schneller zu werden. Kirche kann als Organisation viel lernen von agilen start ups! Kürzere Zyklen, vom Design zum MVP – „minimal viable product“. Bitteschön niederschwellig und vor allem iterativ entwickelt. Diese Zeit, wo wir als Kirche Know-how für uns gepachtet haben und wöchentlich ganz exklusiv von der Kanzel unsere überlegene Deutungshoheit übers Evangelium kundtun. Gottseidank ist das vorbei! 

Josef: Klingt gut, diese Bereitschaft, nicht nur ständig was Neues anzufangen, sondern auch mal alte Zöpfe abzuschneiden. Und zu schauen, fliegt diese oder jene Aktion. Und wenn nicht, stampfen wir das auch schnell wieder ein…

Fliegt die Aktion? Sonst stampfen wir das schnell wieder ein…

Josef John, Digital-Diakon

Jan: Mit unserem Leitungsgremium, dem Ältestenkreis, sozusagen der Aufsichtsrat unserer Kirchengemeinde, habe ich erst kürzlich drüber nachgedacht. Was ist Kirche? Und wo liegt unsere Mission. Was sind Aktivitäten, die wir unmittelbar angehen sollten. Was macht das mit uns! Direkt hier vor Ort, ganz konkret. Auf diesem Weg, manches lieb gewonnene auch loslassen zu können. Und was lassen wir in der Nachfolge Jesu lieber links liegen…

Josef: Kirche ist ein Sammelbecken von Traditionen, alles mögliche zu bewahren…

Jan: … und gleichzeitig Neues zu wagen. Hier vor Ort in Konstanz haben wir den „Stadtwandel“-Prozess, Friday for Future und eine wachsende Urban-Gardening-Szene. All das erlebe ich als Kirche im Milieu, außerhalb verfestigter Strukturen. Im Grunde nichts anderes als das was Jesus gemacht hat; rauszugehen, nicht viel aufzuschreiben, dafür umso mehr mit Leuten zu sprechen, als Agile Coach! Auf Augenhöhe Menschen zu berühren und selbst berührt zu werden. 

Josef: Lebensrelevanz entsteht ja da, wo wir ganz persönlich tiefgreifende Erfahrungen machen, mit Gott und der Welt und den Menschen. Und mein Glaube entscheidet, was ich aus diesem Cocktail an Erfahrungen mache. Wie schaffen wir diese Erfahrungsräume?

Jan: Indem wir uns auf den Weg machen. Mutig, entschlossen und stark! Einfach mal wieder was ausprobieren und wagen, auch ohne 100-seitige Konzeptpapiere. Wobei ich eins gerade ganz prima finde und mit meinen Lernenden durchexerziere: „Digitale Freiheit“. Die zehn Gebote im digitalen Zeitalter. Zum Beispiel das zweite, sich kein Bildnis zu machen von Gott. Aber welches Bild hat Google von dir? 

Josef: Google, Smartphones und Algorithmen. Das gab es zur Zeit der Reformation noch nicht. Aber Glauben, den gab es zu jeder Zeit, auch vor 500 Jahren…

Jan: … und wir fragen uns heute eben so wie damals, wie kann Glaube ganz konkret, über die Bibel-Geschichte hinaus, erlebbar und spürbar werden! Das versucht übrigens auch Mark Zuckerberg mit deinem Metaverse.

Josef: Bei all dem, was du beruflich schon auf die Beine gestellt hast, hast du das alles so geradlinig geplant?

Karriere ist alles andere als linear planbar.

Jan Otte, dreifacher Familienvater

Jan: Karriere ist alles andere als linear planbar. Vielmehr gleicht sie für mich einem Wollknäuel, was wir in der Retrospektive versuchen, ein wenig auseinander zu klamüsern und zu einer Gerade zu ziehen. So ging’s mir bei einer Retreat mit unserem Bischof. Wo wir „person to person“ darstellen sollten, unseren Weg zum Pfarrer, die Suche nach dem roten Faden. Im Nachgang können wir das alles so darstellen, diese einzelnen Etappen. 

Josef: Ich finde auch, wir können Gott nicht mehr so eng denken und Lebensläufe schon gar nicht! Was macht dich glücklich?

Jan: Für die Taufe meiner Kinder habe ich besondere Sprüche aus der Bibel gesucht. Einer davon ist: „Gott nahe zu sein ist mein Glück“ (Psalm 73,28). Und es geht noch weiter: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ (Psalm 31,9). Das passt für mich zu virtuellen Erlebniswelten, geht aber noch viel tiefer als das! Tiefer als so mancher Traum von Transhumanisten. 

Josef: Ich denke da direkt an Psalm 139, den Gedanken, dass Gott uns von allen Seiten umgibt, auch von der digitalen. Bei Mose war es der brennende Dornbusch…

Jan: Und Mose konnte nicht mal richtig sprechen. Brauchte Assistenzsysteme. Ob analog oder digital, linke oder rechte Gehirnhälfte, Emotion oder Rationales, aus dem 3-D Drucker geplottet und als Hologramm. Mir geht es darum, dass wir besondere religiöse Erlebnisse haben; nicht permanent, aber immer wieder! Insbesondere an Lebensübergängen, in Transformationsprozessen, gelebte Veränderung, Change Management. 

Josef: Vielen Dank fürs Gespräch, Jan! Und alles Gute für das, was bei euch als nächstes ansteht…

Artikelbild: (Michael DziedzicUnsplash)

Jan Otte

Jan Otte ist Tech-Theologe und arbeitet als Evangelist zu #ResponsibleAI-Themen in den Bereichen Digitale Ethik, Agile Leadership und Veränderungsprozessen.

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